[2019-05-28] Boyardvile nach Poitiers

Das Hotel bietet ein reichhaltiges Frühstück mit ausreichend Grand Cafe Noir. Ich könnte zufrieden sein; wenn nicht draussen der Regen auf die Tische klatschen würde. Richtig eilig zu packen und einzuladen habe ich daher nicht.

Ich schaue auf Karte und Wetter-App, dann entschließe ich mich heute bis nach Poitiers zu fahren. Es gibt 78 unter Denkmalschutz stehende Kulturdenkmäler, da sollte schon etwas dabei sein was mir gefällt. In Frankreich verleiht man den Städten gerne ein Label, hier ist es Stadt der Kunst und Geschichte. Auf französisch liest das sich ville et pays d’art et d’histoire. Kling gut.

Es war gut etwas zu trödeln, als ich losfahre fallen die letzten Tropfen. Die Strecke ist erwartet langweilig; ich bin froh als ich endlich in Poitiers bin. Die Unterkunft ist direkt in der Altstadt, Fenster geht in den Innenhof, es wird also ruhig bleiben. Das Motorrad stelle ich sicher in der Garage ab, die Plätze draußen sind für die Autos.

Auf kleinem Raum mischt sich Historisches mit Modernem, bei letzterem sticht die Mediathek Francois Mitterand heraus. Auf einmal vor mir eine Kopie der Freiheitsstatue. Sie ist General Jean-Baptiste Breton gewidmet, so steht es auf einer Infotafel. Unter anderem hat er eine Schrift gegen Louis XVIII verfasst, er wurde an dieser Stelle 1822 guillotiniert. Sein letzter Ausruf war “Liberte”.

Freiheitsstatue
Freiheitsstatue

Die Altstadt ist typisch französisch attraktiv, beeindruckend der große Marktplatz vor dem imposanten Rathaus. Vor dem standen noch die Aufsteller von der Europawahl.

Die Parteienlandschaft ist ja ordentlich durchgeschüttelt. Hoffentlich ist das für etwas gut, zumindest sollte der Weckruf gehört werden. Ich bin auf jeden Fall froh dass die Rechtspopulisten nicht noch stärker wurden.

Mal sehen wie sich das jetzt entwickelt, in Schweden sind die sonst so erstarkten Grünen nicht mehr an zweiter, sondern nur noch an fünfter Stelle.

Aus der Altstadt raus, ich erreiche den Fluß Clain. Ein kleiner Weg führt entlang, fast wie der Badeweg in Alzey. Ein unerwartetes Idyll mitten in der Stadt, keine 5 Minuten zu laufen. Ich wäre in der Stimmung für einen Ptit Noir am Ufer, aber kein Cafe weit und breit. Le Moulin de la Glacière auf der anderen Seite hat geschloßen, schade.

Am Caen in Poitiers
Mill Chasseigne am Caen in Poitiers

Dann an einer Überführung Graffitikunst vom feinsten, da finde ich den Spruch: ACAB – All Colors Are Beautiful. Ich muß herzlich über diese neue Interpretation lachen, kannte ich nicht.

Als Nächstes die Kirche Sainte-Radegonde. Die Malereien im Chor gehen zurück bis ins 13. Jahrhundert, die Heilige selbst starb 587. Die romanischen Kapitelle gehen sogar noch 200 Jahre weiter als die Malereien zurück, 11. Jahrhundert. So farbig dekoriert wie hier sieht man sie selten.

Ich steige noch in die Krypta, dort findet sich der Sarkophag der Radegund, ein Bewegungssensor schaltet das Licht ein. Es läuft mir kalt den Rücken runter, das ist aber der Temperatur in der Krypta geschuldet. Uff. Trotzdem ein mystischer Ort.

Ich gehe Richtung Fußgängerzone und stoße direkt wieder auf eine Kirche, die Kathedrale Saint-Pierre-de-Poitiers. Ich will einen Blick reinwerfen, drinnen werden gerade Fürbitten gehalten. Eine ältere Dame trägt vor und die erstaunlich zahlreichen Anwesenden wiederholen. Ich versuche nicht zu stören und schaue mich, ich hoffe dabei rücksichtsvoll zu sein, um.

Im Hintergrund das Gebet fast wie ein Lied zelebriert, plötzlich fällt mir auf: ich bin vor kurzem auf eine genaue Beschreibung dieses Klangteppiches gestossen.

In der Vorbereitung der Tour habe ich das Pyrenäenbuch von Kurt Tucholsky gelesen. Sicher kein aktueller Reiseführer. Ich wollte wissen, wie der von mir verehrte Schriftsteller seinen Besuch erlebt hatte.

Als ich es las fand ich es witzig, der Sprachakrobat Tucholsky zitiert:

«eine Seite des großen Oskar Panizza: gestorben, verdorben; die Bücher verboten, in alle Welt verstreut, vergriffen, das Wichtigste nie wieder aufgelegt… Es war die Seite über das Gebet.»

Die will ich nicht vorenthalten, hier ist sie:

«Auf einer meiner Reisen kam ich eines Tages in einer wundersamen Gegend, in Tirol, in eine Dorfkirche. Sie war edel und freundlich gebaut; im Innern luftige Hallen; an den Säulen und Wänden auf den postamenten standen Apostel und Heilige in verzückten Stellungen, ihre Marterwerkzeuge ostentativ in der hand haltend; und unten in den Stühlen lagerten schwarze, gebeugte Massen: lebendige Menschen. Gleich beim Eintritt empfing mich ein eigentümliches Plätschern, Klirren, Schnurren und rasseln, wie von englischen Webstühlen. Ich glaubte wirklich anfangs, es seien irgendwo im Keller versteckte Häckselmaschinen, die arbeiten, oder hinterm Chor eine Lokomobile, die Getreide drischt. Aber bald fiel mir auf, daß in denschnurrenden Geräuschen regelmäßig wiederkehrende Perioden von bestimmter Länge zu unterscheiden waren, und daß, vergleichbar dem auf jenen Webstühlen Gewobenem, bestimmte Dessins und Farbeneinschlüße in maschinensicherer Abwechslung immer wieder kamen und gingen. Und hier waren die Dessins zu meiner nicht geringen Verwunderung Sprachperioden und Satzkomplexe. <Maria, Gebenedeite!> und <jetzt und in der Stunde des Absterbens> waren die stets wie auf Stramin gewobenen, vorüberrauschenden Figuren und Lautnuancen. Und nun merkte ich wohl, daß es die im Kirchenschiff kauernde Menge war- lebende Menschen -, von deren Lippen und Zähnen dieses Schnurren und Brausen kam. Vorn, ganz weit vorn, stand in einem weißen Kittel der Vorarbeiter, und was er lallend und gurgelnd – und wie ich wohl sah, in seiner Arbeit eminent geschickt – angab, woben und schnurrten die andern nach; zuerst die Alten in den vorderen Kirchenstühlen; und dann hinten die Fabrikmädchen; und was diese mit den fleißigen Zähnchen lieferten, klang, als wenn man Erbsen in irdene Töpfe prasselnd fallen läßt; so hellen Diskant woben die kleinen Finger. Lang, lang blieb ich stehen, wohl eine halbe Stunde, stumm und erstarrt, und konnte es nicht fassen. Fast so lang wie vor dem Rheinfall in Schaffhausen; eingelullt von dem ewig gleichen rauschen und Brausen und ganz versunken in gedanken fortgetragen in eine kleine, ferne protestantische Kirche im Norden, wo ich als Knabe mein stummes Gebet still zu Gott sprach – bis endlich der Wasserfall aufhörte, und das Brausen ein Ende nahm; und ich erwachte; und nun wohl erkannte: das, was ich gehört hatte, waren die Gebetgeräusche der katholischen Kirche; und das Webstück, die Arbeit, die sie vollbracht hatten, nannten sie -: Gebet.»

Oskar Panizza ist 1921 gestorben, fast einhundert Jahre später ist diese Beschreibung noch genauso akurat, auf den Punkt. In Poitiers bin ich Zeuge.

Wieder am Tageslicht brauche ich etwas Profanes, ein kleiner Roter beim Portugiesen an der Ecke hilft. Ich freue mich über die patinierte Werbung an einem Tabac gegenüber, ist mir in dem Moment historisch genug.

Tabac in Poitiers
Tabac in Poitiers

Weltliches auch zum Abendessen beim Maitre Kanter: Moules Frites und dazu ein leckerer Weißwein. Fronkreich, Fronkreich.